Zeit für Professor King!
Musicals ziehen weltweit das Publikum in ihren Bann. Alle lieben „Cats“, das derzeit ein Revival feiert. „Wicked“ verzaubert nicht nur in London die Zuschauer. „Les Misérables“ ist von dort gar nicht mehr wegzudenken. Die Liste erfolgreicher Produktionen ließe sich ausgiebig fortsetzen. Doch nennt man die Titel „Alchemy“ und „King’s Ransom“, sind vermutlich selbst eingefleischte Musicalfans erst einmal ratlos. Höchste Zeit also, diese beiden Steampunk-Musicals von Clive Nolan aus der Nische herauszurücken, in der sie sich (noch) befinden! Und das hat auch persönliche Gründe…
„Das hat mir sogar noch besser gefallen als Les Misérables!“, sagte eine ältere Dame zu ihrer Begleitung, als sie im August 2014 das Jermyn Street Theatre unweit des Piccadilly Circus verließ. Dort hatte sie gerade eine Aufführung von „Alchemy“ gesehen, einem Musical aus der Feder des Engländers Clive Nolan. Bis heute ahnt sie vermutlich nicht, welche Freude ihr Kommentar ausgelöst hat.
Nolan, selbst großer Musicalfan, stand nämlich zufällig in Hörweite. Und er registrierte gleich zwei Dinge: Nicht nur war die Dame neugierig genug gewesen, das kleine Theater abseits der Mainstream-Bühnen zu besuchen und sich auf ein neues, bis dahin relativ unbekanntes Stück einzulassen. Sie hatte auch bestätigt, dass sich „Alchemy“ durchaus mit den Dauerbrennern des Londoner West Ends messen kann…
Treue Fans aus aller Welt
Der Erfolg spornte an. Doch es sollte noch drei Jahre bis zu einer Fortsetzung dauern. Drei Jahre, in denen „Alchemy“ auf Bühnen in den Niederlanden, Deutschland und – mit einer eigenen Produktion und anderer Besetzung – auch in Norwegen gastierte. In der Zwischenzeit kümmerte sich Nolan, der vor allem Anhängern des Musikgenres „Progressive Rock“ ein Begriff sein dürfte, um andere Projekte. Auch spielte er zahlreiche, vielfach privat organisierte Benefizkonzerte, die dazu dienten, Geld für die Musicalproduktionen zu erwirtschaften.
Nolan ist Komponist, Texter und Keyboarder und hat sich nicht nur mit Bands wie Shadowland oder Arena einen Namen gemacht, sondern ist bis heute Mitglied der erfolgreichen Formation Pendragon, die derzeit wieder auf Tour ist und gerade ihr erstes Konzert in Japan gespielt hat.
Bereits 2007 hatte Clive Nolan ein erstes Musical veröffentlicht: „She“, basierend auf der gleichnamigen Erzählung von H. Rider Haggard. Dank seiner Virtuosität und unermüdlichen Schaffenskraft feiert Nolan weltweit Erfolge. Seine Fans kommen nicht nur aus den Niederlanden, Norwegen, Polen, Deutschland und Frankreich, auch in Südamerika hat der Musiker viele treue Unterstützer.
Sie alle warteten nun gespannt auf das neue Musical, das Anfang 2016 endlich Formen anzunehmen begann. Als ab dem Frühjahr 2017 nach und nach drei Trailer erschienen, wurde klar, dass diese Produktion etwas ganz Besonderes werden würde. Hier ist der dritte Clip. Statt einzeln anklingender Themen rückt er gleich einen kompletten Titel in den Mittelpunkt: „Harm’s Way“, gesungen von Sopranistin Gemma Ashley in der Rolle der Eva Bonaduce:
The Fire and the Quest
Anfang September 2017 schließlich hatte das Warten endlich ein Ende. Im restlos ausverkauften Playhouse in Cheltenham feierte „King’s Ransom“ am 2. September vor einem begeisterten Publikum Premiere. Bereits am Vorabend hatte es eine Aufführung von „Alchemy“ gegeben, und am Nachmittag noch ein mit internationalen Künstlern besetztes Akustik-Konzert.
Ein großes Event also, das mittlerweile auf dem besten Wege ist, Kultstatus zu erlangen: Bei „The Fire and the Quest“ treffen sich alte Freunde und es werden neue internationale Freundschaften geschlossen – und das nicht nur unter den Fans, sondern auch mit den Darstellern. Das ganze Wochenende wird zusammen gelacht, erzählt, gegessen, gefeiert. Und natürlich in Musik geschwelgt.
Eintauchen in eine viktorianische Welt
Aber was ist es, das die Faszination der Musicals ausmacht, dass dafür sogar Fans aus Chile und Uruguay anreisen? Dem Filmemacher Neil Monaghan ist es gelungen, die Atmosphäre während des Premierenwochenendes einzufangen:
Zum einen sind es sicher die Melodien, die sich ohne weiteres mit Werken von Künstlern wie Andrew Lloyd Webber oder Gilbert und Sullivan messen können. Zum anderen ist es die Handlung, die den Zuschauer in eine andere Welt entführt. Beide Steampunk-Musicals von Clive Nolan spielen im England des 19. Jahrhunderts und werden vom Ensemble der Caamora Theatre Company unter der Regie von Ian Baldwin in Szene gesetzt.
Clive Nolan ist fasziniert vom viktorianischen Zeitalter, das geprägt ist von Gegensätzen. Da gibt es soziale Armut und eine große Unterschicht, die um ihre Existenz kämpft, während anderswo Industrialisierung, technische Errungenschaften und Forschergeist triumphieren. Es ist eine Zeit des Umbruchs. Sie liefert Stoff für Geschichten von unerschrockenen Abenteurern und brillanten Wissenschaftlern, aber auch von romantischer Liebe und machtgetriebener Intrige – Geschichten, in denen die Grenzen verschwimmen zwischen dem, was schon möglich ist und dem, was noch möglich sein könnte.
In genau diesem Spannungsfeld bewegen sich Nolans Werke, die dazu einladen, zwei Stunden lang in eine phantastische Welt einzutauchen, in der Armut auf Habgier trifft, Gut auf Böse, moderne Wissenschaft auf alte Magie. Der Tod lässt sich als zentrales Thema ausmachen und taucht in verschiedenen Facetten auf. Doch düster sind die Stücke deshalb noch lange nicht. Im Gegenteil. „King’s Ransom“ im Besonderen hält gekonnt die Balance zwischen Humor und Ernsthaftigkeit.
Erzählerisch greift Nolan typische Themen der Epoche auf, so zum Beispiel den zu Zeiten von Königin Victoria verbreiteten Spiritismus: Séancen hatten Hochkonjunktur. Die angebliche Kommunikation mit den Toten war ein einträgliches Geschäft für Scharlatane. Die spiritistische Gabe der Figur Tom Worthy in „King’s Ransom“ jedoch ist echt, und so verschwimmt hier auf unterhaltsame Weise historische Wahrheit mit spielerisch aufbereiteter Fiktion.
Figuren und Handlung der Steampunk-Musicals von Clive Nolan
Zentrale Figur beider Stücke ist Professor Samuel King – klug, wagemutig und belesen, mit großem Herzen für die Armen, doch verschlossen, wenn es um seine Gefühle geht. Immer hat er einen Plan B parat – und wenn es sein muss, auch noch zwei weitere („A Quarternary Plan“). Mit seinen Weggefährten, der Amazone Eva Bonaduce und William Gardelle, einem ehemaligen Taschendieb, kämpft King gegen das personifizierte Böse, das im Gewand brillanter, gesellschaftlich angesehener Gegenspieler daherkommt, die es aufzuhalten gilt.
„Alchemy“ spielt im Jahr 1842. Lord Henry Jagman, Widersacher des Professors, ist auf der Suche nach drei Artefakten, die der Alchemist Thomas Anzeray nach seinem Tod an verschiedenen Orten versteckt hat. Bringt er sie in einem Ritual zusammen, öffnet dies ein Tor zur Welt der Toten und ihm den Weg in die Unsterblichkeit.
Schlüssel zum Auffinden der Gegenstände ist nicht zuletzt Amelia Darvas, die nach dem Tod ihres Vaters im Schuldnergefängnis einsitzt und zur Hinrichtung durch den Strang verurteilt ist. Jagman verspricht ihr die Freiheit im Gegenzug für Informationen, die sie allerdings nicht zu liefern vermag – bis der Professor und seine Gefährten sie retten, das Geheimnis lüften und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt… jedoch nicht ohne schmerzliche Verluste.
Versuchte der Professor in „Alchemy“, Lord Henry Jagmans Streben nach ewigem Leben Einhalt zu gebieten, so ist in der Fortsetzung das genaue Gegenteil sein Ziel: Hier gilt es, das sichere Ableben des englischen Premierministers zu verhindern. Der wurde vergiftet durch Colonel Luther Scovil mit keinem geringeren Ziel, als das britische Empire zu stürzen. Dort, wo Wissenschaft und klassische Medizin versagen, setzt der Professor alles auf eine Karte: Spirituelle Kraft und Magie sind seine einzige Hoffnung auf Rettung.
„King’s Ransom“ ist zweifellos das bis dato ambitionierteste und nach einhelliger Meinung von Besuchern und Rezensenten wohl auch gelungenste Musical von Clive Nolan. Zeitlich befinden wir uns jetzt zwei Jahre nach der Handlung von „Alchemy“, doch muss man die Vorgeschichte nicht kennen, um „King’s Ransom“ folgen zu können.
Erneut stehen Eva und William dem Professor zur Seite, aber es gibt auch eine Reihe neuer Charaktere. Josephine Kendrick zum Beispiel verkörpert die talentierte Ärztin, auf die Professor King vertraut – und das zu einer Zeit, in der Frauen das Medizinstudium offiziell verwehrt war. Josephine kümmert sich also im Stillen um ihre Patienten: Ausgestoßene und Obdachlose, die in Tunneln und Katakomben unter London Zuflucht gefunden haben und dort mit ihrem Anführer Edwin Deeks eine eingeschworene Gemeinschaft bilden.
Der Professor bewahrt den Zufluchtsort durch einen Deal mit der Krone vor der Zerschlagung: Die Welt unter London bleibt intakt, dafür will King mit dem Serum einer seltenen Orchidee, die über magische Kräfte verfügt, den Premierminister retten. Doch niemand weiß, wo sich die Pflanze befindet – so sie überhaupt existiert. Aufklären könnte dies nur Captain Fergus Maunder, ein ruhmreicher Entdecker. Und der ist leider bereits tot…
Mit Hilfe von Tom Worthy, einem begabten Spiritisten, der seinen Beruf aus Angst vor Geistern an den Nagel gehängt hat, nehmen King und seine Gefährten Kontakt zu Maunder auf. Doch ein Maulwurf in den eigenen Reihen droht, alle Bemühungen zunichte zu machen…*
Bühne und Kostüme
Das Bühnenbild ist auf das Wesentliche reduziert, doch stets atmosphärisch. Neben multifunktional gestalteten Paravents gibt es bei „Alchemy“ eine Videoleinwand, die die Ortswechsel unterstreicht. Das sieht nicht nur gut aus, sondern ist auch funktional, denn mit einem kleinen Budget lassen sich keine allzu großen Sprünge machen. Das sieht man den Produktionen jedoch nicht an, und das ist vor allem dem unermüdlichen Einsatz des Kreativiteams um die Kostüm- und Bühnenbildnerin Nathalie Barnett und ihre Mutter Caron Morgan zu verdanken.
„King’s Ransom“ nimmt die Zuschauer mit an Orte wie Covent Garden, Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett oder die damals noch im Bau befindliche Orangerie der botanischen Gärten, Kew Gardens. Drehbare, detailliert bemalte Wände, die sich je nach Szene ändern lassen, und in vielen Stunden Eigenarbeit erstellte Requisiten machen die Inszenierung wunderbar detailreich und farbenfroh. Auch das Lichtdesign von Alec Morris ist ein Kunstwerk für sich und trägt maßgeblich zur gelungenen Aufführung bei.
Zugabe!
Schön wäre es also, wenn diese Aufführungen demnächst öfter stattfinden könnten und die Steampunk-Musicals von Clive Nolan so einem größeren Publikum zugänglich gemacht würden. Vielleicht kann dieser Artikel ja einen kleinen Beitrag dazu leisten. Ich habe ihn nicht nur geschrieben, weil mich mit Clive Nolan eine mittlerweile 25-jährige Freundschaft verbindet. Ich bin von der Qualität der Musicals überzeugt, liebe die Musik, die Darsteller, ihre Spielfreude und ihre Stimmen.
Auch mein Herzblut steckt in diesen Projekten: Nachdem ich bereits in einer Konzertversion von „She“ mitgesungen hatte, durfte ich auf der CD-Aufnahme von „King’s Ransom“ den Chorus verstärken und auch dort Teil der Caamora-Familie werden – eine große Ehre für mich, während ich weiter fleißig an meiner Stimme arbeitete!
Also, ihr Musicalfans da draußen: Professor King lädt euch ein, seine Welt zu entdecken und euren Freunden davon zu erzählen. Denn wie sagt schon Edwin Deeks, als er Martha Kitson in der Gruft zu Beginn von „King’s Ransom“ vom letzten Abenteuer Kings berichtet? „It all began with an invitation…!“
NACHTRAG:
Ian Baldwin verstarb im Januar 2018. Die Steampunk-Musicals von Clive Nolan werden in seinem Sinne weiter gespielt. Im September 2018 fand ihm zu Ehren im Playhouse von Cheltenham das Benefiz-Wochenende „For Ian“ statt, bei dem King’s Ransom erneut aufgeführt wurde. Und es gibt neue Pläne: Eine Verfilmung der Musicals unter der Regie von Neil Monaghan ist in Arbeit.
* Wer die Handlungsübersicht der beiden Steampunk-Musicals von Clive Nolan im Detail nachlesen möchte: Hier geht es zur Zusammenfassung von „Alchemy“ und hier zu der in diesem Fall von mir erstellten Übersetzung für „King’s Ransom“.
Weiterführende Links:
www.alchemythemusical.com und www.kingsransomthemusical.com sowie shop.caamora.net für alle, die sich die CDs zum Reinhören besorgen möchten. Es lohnt sich – versprochen!
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